Abtreibung – Versuch einer sachlichen Bestandsaufnahme

Über kein anderes Thema wird so emotional, und in solchen Extremen, diskutiert wie über Abtreibung. Und bei keinem zweiten Thema dürfte die Kluft zwischen veröffentlichter und allgemeiner Meinung so groß sein.

Nein. Ich rede jetzt nicht von einer Verschwörungstheorie über die angebliche Kontrolle der Medien durch linke Feministinnen/rechte Familienfundamentalisten (nichtzutreffendes bitte streichen).

Die Deutung, Abtreibungsgegner seien „unemanzipierte Heimchen und religiös fundamentalistische Männer“ ist genauso großer Quatsch wie die gegensätzliche, Abtreibungsbefürworter seien „lesbische Emanzen und Linksradikale, die Frauen ausbeuten und Erziehung verstaatlichen wollen“.

Dieser Artikel versucht, das Thema von beiden Seiten zu beleuchten. Er ist parteiisch, darin unterscheidet er sich nicht von allen anderen; ich gebe dies offen zu. Aber nach bestem Wissen und Gewissen versuche ich, sachlich zu bleiben.

Deutsches Recht: Wann beginnt der Schutz des Lebens?

Die Antwort auf diese Frage ist so paradox, daß es an legislative Schizophrenie grenzt.

Was heißt das?

Erstens: Rechtlich entsteht eine Person mit „Vollendung der Geburt“. Jedoch:

  1. Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.
  2. Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegenüber der Mutter.
  3. Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.

BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I

Damit ist ungeborenes Leben kein „rechtsfreier Raum“; das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stellt fest, daß der Staat verpflichtet ist, es auch gegenüber der Mutter zu schützen; und dieses Grundrecht des ungeborenen Lebens wird ausdrücklich über das Grundrecht der Mutter auf Selbstbestimmung gestellt.

Zweitens: Wenn das Verfassungsgericht auch grundsätzlich Fristenlösungen untersagt hat (und diese Auffassung gegen allerlei spitzfindige Kunstgriffe 1993 ausdrücklich bestätigt hat), setzt der Staat trotzdem eine Frist fest: Wenn Abtreibung auch rechtswidrig ist, wird sie nicht verfolgt, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen vergangen sind. Das entspricht der 14. Schwangerschaftswoche (die Schwangerschaftswochen zählen ab der letzten Regelblutung; die ersten beiden „Schwangerschaftswochen“ bestehen aus Aufbau der Gebärmutterschleimhaut und Eisprung).

Drittens: Aber grundsätzlich strafbar ist es trotzdem, sobald sich die befruchtete Eizelle in der Gebärmutter eingenistet hat.

Viertens: Jetzt kommt der ganz große Salto rückwärts in den  Spagat. Wo sich der Gesetzgeber vorher krummgelegt hat, die Auflagen des Verfassungsgerichtes zu umgehen – soll nun plötzlich schon die befruchtete Eizelle (Zygote) geschützt werden. Und jede Stammzelle, die man aus dem Embryo entnehmen und die sich, wenn sie eine Gebärmutterschleimhaut findet, weiter zum Embryo entwickeln kann. Wie es auf natürlichem Wege bei eineiigen Mehrlingen passiert.

Ein Embryo im Mutterleib, der sich bis zur 12. Woche schon erheblich entwickelt hat, kann praktisch noch legal abgetrieben werden; ein Forscher, der an einer Zelle forscht – bitte, das hier ist kein Science Fiction, es geht hier um die Bekämpfung sehr schlimmer Krankheiten – macht sich strafbar.

Die Prä-Implantationsdiagnostik (PID) setzt der Sache die Krone auf: Bei einer künstlichen Befruchtung werden grundsätzlich mehrere Eizellen befruchtet, damit überhaupt eine sich einnistende Zygote herauskommt. Anstelle den Pool von erfolgreich befruchtetenEizellen jetzt auf Erbkrankheiten zu untersuchen, für die die Eltern anfällig sind – soll der Arzt nach Art „Blinde Kuh“ eine auswählen und einsetzen; ist sie dann krank, soll die Mutter sie abtreiben. Es geht bei PID also nicht um „Designerbabies“ mit Anlagen zu hohem IQ oder bestimmtem Geschlecht; es geht um Krankheiten, bei denen das Kind schwerkrank auf die Welt kommen wird, wie Mukoviszidose, Tay Sax, starker Neigung zu Krebs…; maximal um eine Auswahl zugunsten eines der „potentiellen Kinder“, das genetisch als Spender zugunsten eines bestehenden kranken Kindes in Frage kommt.

Wann beginnt Leben, und warum soll es geschützt werden?

Rechtlich gesehen bietet „der Staat“ also keine Hilfestellung. Das Thema ist aber auch eine ethische Fragestellung.

In einem Radiobericht wurde Jürgen Habermas in anderem Zusammenhang zitiert, als er meinte, da sich ein Embryo nicht äußern kann, muß man von seiner „antizipatorischen Meinung“ ausgehen. Das heißt, man muß sich fragen: Wenn der Embryo als Volljähriger nach seinem Willen gefragt würde, welche Antwort würde er geben?

Dieses „Antizipieren“ ist nichts neues. Sanitäter und Ärzte machen es täglich. Sie gehen davon aus, daß ein Bewußtloser oder „Benebelter“, wenn er wieder einen klaren Kopf hat, sein Leben behalten will. Der Orthodoxe, der eine Bluttransfusion ablehnt, bekommt sie, sobald er das Bewußtsein verliert. Der Selbstmörder, der z.B. nach Vergiftung noch die Behandlung ablehnt, wird gerettet, sobald er einschläft. Und das aus gutem Grund. Einer der wenigen überlebenden Springer von der Golden Gate Bridge in San Francisco erzählte später: „Als ich fiel, wurde mir plötzlich klar, daß es für alle meine Probleme eine Lösung gibt – außer dem, daß ich gerade gesprungen war.“ Eine Ausnahme davon ist nur bei Vorliegen einer „Patientenverfügung“, die sehr eingeschränkt gilt (nur wenn keine Aussicht besteht, Gesundheit und Bewußtsein wiederherzustellen) und mit einem Arzt erörtert wurde (Unterschrift).

In der Regel kann man davon ausgehen, daß dieser „antizipatorische Wille“ des Embryos sein Überleben ist. Grundsätzlich sollte das Recht des zukünftigen Menschen, sich zu entwickeln, höher bewertet werden als das Recht der werdenden Mutter, über ihren Körper selbst zu bestimmen.Bis zur letzten Konsequenz wird dieses Recht bei Müttern angewandt, die direkt nach der Geburt ihr Kind töten – die psychisch-hormonelle absolute Ausnahmesituation, in der sich die Mütter dann befinden, wird bisher kaum beachtet.

Das ist das ethische Dilemma; in dem Augenblick, in dem die Zygote durch Befruchtung entsteht, entsteht Leben, das die Chance hat, zu einem Menschen zu werden. (Eine Bekannte erzählte mir, daß aber 60% der Schwangerschaften vor dem 3. Monat enden – die Mutter stößt ganz natürlich Embryonen ab, die nicht lebensfähig wären. – Ob das überhaupt alle Embryonen erfaßt, die vor der 4.-6. Schwangerschaftswoche abgehen, weiß ich nicht.)

Das ist übrigens auch der ursprüngliche Grund für die „Pillen-Enzyklika“: Es gibt mehrere Arten von „Pillen“.

  • Ein– oder Monophasische Präparate verhindern den Eisprung – es gibt nichts, was befruchtet werden könnte. – Mit diesen Pillen können Frauen auch ihren Zyklus regulieren; wird diese Pille permanent eingenommen (ohne die einwöchige Pause), wird die Gebärmutterschleimhaut nicht abgestoßen.
  • Mehr– oder Multiphasische Präparate – und die „Pille danach“können die Einnistung der Zygote in die Gebärmutterschleimhaut verhindern. Damit entsteht Leben – wird aber in einem sehr frühen Stadium beendet. Sie können aber auch den Eisprung verhindern.

Die romkatholische Kirche hat den Schutz des Lebens in allen Formen vorangestellt – eine legitime Position.

Diese Argumentation ist gegenüber der moralischen Argumentation – „kein Sex vor der Ehe“ – aber komplett zurückgetreten, und trägt praktisch nichts zur Meinungsbildung der Eltern bei – sondern führt dazu, daß die überwiegende Mehrzahl der westlichen Romkatholiken sie einfach ignoriert. Anstatt in die Diskussion einzugreifen, hat die Kirche das Kind regelrecht mit dem Bade ausgeschüttet. Der heutige westliche Romkatholik sucht sich aus der Lehre die ihm angenehmen Punkte aus – weil vieles einfach nicht praxistauglich ist.

Ganz sicher ist eine „Pille danach“ in vielen Situationen das kleinere Übel. Auch gut ist es aber, als Mann oder Frau trotz Pille auf weitere Verhütungsmittel zu bestehen; ein zusätzliches Kondom verhindert das Dilemma und hat auch sonst viele Vorteile.

Regel… und Ausnahmen

Egal, was man konstruiert – es ist immer das Gleiche: 10% der Fälle machen 90% der Arbeit. Eine Abtreibung „aus Bequemlichkeit“ sollte nie die Regel werden. Neues Leben zu schützen – in- und außerhalb des Mutterleibes – muß wichtiges Ziel jeder Gesellschaft sein.

Sollte man deswegen, wie von den meisten Abtreibungsgegnern gefordert (nein, das sind nicht nur Männer), jede Abtreibung ablehnen? Das widerspricht dem Personalitätsprinzip der christlichen Sozialethik, auf dem der „sozial“-Teil der deutschen sozialen Marktwirtschaft beruht. Kurz gesagt, jeder Fall wird von einmaligen Individuen bestimmt, die einzeln beachtet werden müssen und nicht nach starren Regeln betrachtet werden dürfen. „Da könnte ja jeder kommen!“ ist kein Argument; ja, es könnte jeder kommen. Aber jeder Fall wird trotzdem einzeln beurteilt. – Wie jedes Prinzip der Sozialethik wird auch dies vom Staat heute weitgehend ignoriert, aber das ändert nichts an seiner ethischen Gültigkeit.

Wie kann eine Gesellschaft dem Rechnung tragen? Ich oute mich als absoluten Anhänger der ehemaligen „Indikationsregelung“. Darin wurde erst in zweiter Linie gefragt, was die Eltern wollen (bitte sei niemand so blauäugig und glaube, daß die Entscheidung über die Abtreibung immer von der Mutter getroffen wird – nicht selten setzt sie der Vater, die Familie und ihre Gruppe massiv unter Druck); sondern, warum sie es wollen.

Es gab folgende Gründe (Indikationen):

  • medizinische Indikation
  • eugenische (besser: embryopathische) Indikation
  • kriminologische oder ethische Indikation
  • soziale Indikation

Medizinische Indikation

…liegt vor, wenn die Schwangerschaft eine erhebliche Gefahr für die Mutter darstellt. Der Grundsatz Eigenschutz vor Hilfeleistung gilt in jedem Bereich; so ist jedermann zu Hilfeleistung nach Kräften „bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not“ verpflichtet, sofern keine erhebliche eigene Gefahr besteht. Ein Sanitäter ist nicht verpflichtet, einem Unfallopfer vor Absicherung der Unfallstelle zu helfen oder einen Verletzten bei dringender Explosions- oder Einsturzgefahr zu retten.

Die selbe Rechtsnorm ist auf Schwangere nicht anwendbar; der Inhalt der Norm ist es aber, daß das eigene Recht auf Leben grundsätzlich über dem Recht des Anderen auf Hilfe steht. Ein Feuerwehrmann, der einen Verletzten aus einem schon heiß brennenden, explosionsgefährdeten Auto rettet, ist ein Fall für die Lebensrettermedaille. Eine Frau, die sich trotz erheblicher Gefahr für Gesundheit und Leben für ihr Kind entscheidet, kann gar nicht genug Anerkennung erfahren.

Diese Entscheidung liegt jedoch bei der Frau. Niemand hat das Recht, ihr vorzuschreiben, ihr Leben zu geben. Diese Indikation ist mit großem Abstand am unumstrittensten.

Eugenische Indikation

…ist ein Anwärter für das Unwort des Vierteljahrhunderts. Gemeint ist Embryopathische Indikation. Eine Abtreibung ist demnach legitim, wenn das Kind nur mit erheblicher Krankheit auf die Welt käme. Zwei Aspekte gehören dazu.

Erstens ist es eine gewaltige Belastung für die Eltern, ein schwerbehindertes Kind zu pflegen. Neben der „ganz normalen“ psychischen Belastung und Belastung durch Krankheit bestehen gewaltige Defizite in der Akzeptanz von Behinderten; und Eltern von Behinderten werden auch staatlich nicht ausreichend unterstützt. Und daran wird sich bei momentaner politischer Lage auch nicht viel ändern.

Abtreibungsgegner verweisen gerne auf Down-Kinder; diese sind scheinbar die idealen Kinder, sie werden nie erwachsen. Was sie dabei nicht beachten: Auch Down, Trisomie-21, ist eine schwere Krankheit mit hohem Risiko von Herzkrankheiten und erhöhtem Leukämierisiko. Und Trisomie-21 ist vergleichsweise harmlos. Das Kind ist nur bei zwei weiteren vollständigen Autosomalen Trisomien – 13 (Pätau) und 18 (Edwards) – mit sehr eingeschränkter Lebenserwartung lebensfähig. Tay-Sachs und Mukoviszidose sind nur zwei der weiteren bisher unheilbaren Krankheiten, die schon im Mutterleib diagnostiziert werden können.

Damit kommt zweitens die Frage, wie wohl der „antizipatorische Wille des Embryos“ wäre – für wie lebenswert würde es ein Leben in chronischer Krankheit, teilweise mit permanentem Schmerz oder Angst, beurteilen?

Diese Frage kann nicht allgemein beantwortet werden. Es obliegt den Eltern und besonders der Mutter, eine Antwort stellvertretend für das ungeborene Kind zu geben. Es verbietet sich für andere, hier einzugreifen; das BVerfG geht nur von einer Entscheidung der Mutter aus. „Sie hätten doch abtreiben können!“ ist nicht nur unhöflich, sondern widerspricht dem Grundgesetz!

Kriminologische Indikation

…liegt vor, wenn das Kind im Zuge einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung der Frau (wie Vergewaltigung, Mißbrauch und Nötigung) zustande gekommen ist. Auch wenn ein gesundes Embryo heranwächst, ist es der Mutter nicht zuzumuten, das Ergebnis z.B. einer Vergewaltigung auch noch austragen zu müssen. Wenn sie es tut, verdient sie höchste Anerkennung; aber niemand ist berechtigt, sie zu kritisieren, wenn sie die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch trifft.

Soziale Indikation

…bedeutet, daß die Lebensumstände der Eltern, besonders der Mutter, durch ein Kind unverhältnismäßig beeinträchtigt werden. Sie war immer umstritten, und das zu Recht: Sie bedeutet nicht weniger als die Kapitulation des Sozialstaates. Der Staat hat die verfassungsmäßige Pflicht, Eltern Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sie gesichert Kinder bekommen und erziehen können.

Als zweiter Kritikpunkt besteht die Möglichkeit, ein Kind zur Adoption freizugeben; Eltern mit Kinderwunsch, die keine Kinder bekommen können, gibt es sehr viel mehr als Adoptivkinder. Darüber wird aber kaum informiert, auch wenn es im Urteil des BVerfG klar gefordert wird (12. Ein solches Beratungskonzept erfordert Rahmenbedingungen, die positive Voraussetzungen für ein Handeln der Frau zugunsten des ungeborenen Lebens schaffen. Der Staat trägt für die Durchführung des Beratungsverfahrens die volle Verantwortung.).

Risiko Adoption?

Abtreibungsbefürworter verweisen auf mögliche psychische Spätfolgen, ein Kind zur Adoption freizugeben. Wenn es solche Folgen wirklich gibt, scheint mir das eher auf fehlerhafte Verfahren bei der Adoption selbst hinzuweisen; bevor z.B. Irmela Wiemann vor dem deutschen Ethikrat komplett in die Pseudowissenschaft Gerald Hüthers („Ratten-Hüther“) abdriftet, bestätigt ihre Präsentation von 2008 größtenteils diese Auffassung (S. 1-4).

Kritisch erscheint vor allem, daß viele postulierten Spätfolgen der Mütter auch bei einer Totgeburt und der Kinder bei Weisen auftreten müßten. Es spricht eher dafür, daß viele der heutigen abgebenden Mütter ein ähnliches soziales Profil teilen, da dies nicht so ist. Hiermit könnte man – blasphemisch auf sachlicher Ebene argumentierend – eventuell auch das früher postulierte Post Abortion Syndrome erklären: Ungewollte Schwangerschaften können ein Anzeichen für eine unterliegende Neuro-Psychiatrische Störung der Schwangeren sein. Wenn Abtreibung seinerzeit nur in absoluter Notlage möglich war, wird bei diese Frauen die Schwangerschaft gehäuft abgebrochen, und die Schwangerschaftsabbrüche können vordergründig als Auslöser später akut werdender psychischer Störungen erscheinen.

Gerade bei adoptierten „Problemkindern“ sollte untersucht werden, ob es keine körperliche Ursache gibt; Stand der Forschung bei ADS beispielsweise ist, daß Alkohol- oder Drogenabhängigkeit der Mutter nicht die Ursache einer ADS beim Kind ist – jedoch ein Abusus der Mutter ein Symptom für eine unbehandelte ADS bei der Mutter ist. In Wiemanns Präsentation genannte Probleme zur Adoption freigebender Mütter passen zu dieser Deutung; hier sollte durch Studien ein Zusammenhang überprüft werden. Insbesondere ADS ist bei einer früh einsetzenden Therapie gut einstellbar.

Ich kann mir nicht verkneifen festzustellen, daß mich die Argumentation sehr stark an die Hinweise von Abtreibungsgegnern auf psychische Spätfolgen bei einer Abtreibung erinnert. Man darf gespannt sein: Kommt bald ein „STERN“-Titel: „Wir haben zur Adoption freigegeben“?

Keine Pflicht ohne Recht

Einerseits ist es also in Deutschland die Pflicht einer Schwangeren, ihr Kind auszutragen, auch wenn die Regierung nach besten Möglichkeiten versucht, diese Feststellung des höchsten deutschen Gerichts zu umgehen.

Andererseits, und daran versagt der Staat seit längerem im Gegensatz zu anderen Ländern wie Frankreich, Skandinavien, selbst der em. DDR, haben werdende Eltern das Recht, daß der Staat die Rahmenbedingungen für ihre Elternschaft schafft. Dies gebietet einerseits das Solidaritätsprinzip der Sozialethik, andererseits der sehr hohe verfassungsrechtliche Stellenwert von Embryos und Kindern, den das BVerfG bestätigt hat. Drittens funktioniert das deutsche Rentensystem nach dem Schneeballprinzip („Generationenvertrag“), das ohne Nachwuchs zusammenbricht. Es ist überfällig, es in eine kapitalgedeckte Form zu überführen. Kein ethisches, aber sehr wohl ein praktisches Argument.

Alleinerziehende Mütter haben statistisch das vierfache Armutsrisiko wie der Rest der Deutschen. Eine Frau, die ohne Ausbildung ihren Lebensunterhalt verdienen muß, rangiert am unteren Ende der Lohnskala. Wenn das Kind herangewachsen ist, wird sie keine Ausbildung und keinen guten Arbeitsplatz mehr bekommen, so daß sie von der Supermarktkasse nahtlos in die Altersarmut übergehen wird. Dies ist ein absolutes Unding.

Das deutsche Bildungssystem, das ihr Kind durchläuft, ist  ein reines ideologisches Schlachtfeld, in dem Erkenntnisse der Pädagogik – selbst eine Wissenschaft mit starken Ideologisierungsproblemen – weitgehend ignoriert werden. Ein nachhaltiges (schon wieder Sozialethik) Bildungssystem muß sowohl qualitativ hochwertig, als auch auf möglichst breite Vermittlung von praxisbezogener Bildung und Durchlässigkeit nach oben ausgelegt sein; „PISA“ prüft nur den ersten Aspekt.

Die berufliche Perspektive der Eltern muß gesichert sein; das fängt bei guter Kinderbetreuung an, aber geht noch weiter: Beide Eltern brauchen relative Planungssicherheit (Problem befristeter Arbeitsstellen), ein ausreichendes Einkommen (Problem Mindestlohn und Gewerkschaften) und Förderung zum Wiedereinstieg nach der Elternzeit (Problem schnell voranschreitender technischer Standard („SOTA“)).

Diese Kombination – grundsätzlich wirksamer rechtlicher Schutz des ungeborenen Lebens, auch vor der Mutter (deren Selbstbestimmungsrecht, wirksame Verhütungsmittel zu verwenden, davon nicht berührt wird) und untrennbar davon Schaffung positiver Rahmenbedingungen der Elternschaft – wurden vom Bundesverfassungsgericht formuliert. Sie umzusetzen, bedeutet nicht, ein konservatives Familienbild zu transportieren – ebenso wenig, wie es ausreicht, ein praktisch gar nicht mehr mögliches konservatives Familienbild einseitig zu fördern. Schutz des ungeborenen Lebens ist nicht nur legitim, sondern Verfassungsziel; das Personalitätsprinzip muß aber beachtet werden.

Comments
2 Responses to “Abtreibung – Versuch einer sachlichen Bestandsaufnahme”
  1. annemarie37 sagt:

    Ja, da gibt es einige Schizophrenien im deutschen Recht. Vor allem ist das Urteil des BVerfG von 1993 schizophren sowie das ESchG. Und wenn ich das schon nur lese, „Pflicht zum Austragen“, überkommt mich das grosse Würgen. Frauen sind keine Leibeigene ihrer (ungewollt entstandenen) Leibesfrüchte.
    Indikationen: jede Indikationenlösung führt zu Willkür, das lehrt die weltweite Erfahrung. Wer soll denn befugt sein, ausser der betroffenen Frau selbst, darüber zu entscheiden, was für sie eine unzumutbare soziale Notlage ist?
    Nebenbei: ungewollt schwangere Frauen sind noch lange keine „Mütter“ (ausser jene ca. 50%, die bereits Kinder haben) und ihre Partner sind noch nicht „Väter“.

    • dingosaar sagt:

      Über die Neusprech-Regelungen hatten wir ja schon geredet, in Voruntersuchungsbögen etc. wird von „Vater“ und „Mutter“ gesprochen, nicht „Erzeuger“ und „Austrägerin“ oder so. „Erzeuger“ und „werdende Mutter“ ist so ein PolitSprech-Konstrukt, um den (werdenden) Vater zu entmenschlichen und „versächlichen“. Es gibt gute Menschen und schlechte Menschen, aber ein Mensch (wie Johannes Rau das sehr gut ausgedrückt hat) bleibt jeder.

      Ich denke, der Rest ist ein Generationenproblem und wächst sich aus. Die Sichtweise ändert sich in meiner Generation und denen danach zunehmend. Was nutzt das praktischste „Recht“, wenn eine Schwangerschaft schon – entgegen Art. 6 Abs. 4 GG – nach alter Regelung eine „soziale Indikation“ wäre – Nachteile in der Karriere, fast dreifache Armutsgefahr bei Alleinerziehenden, Kinderbetreuung und kindgerechte Arbeitsplätze etc. Fehlanzeige?

      Davon abgesehen, leider gibt es da einen „Rückschwung“ (ich hoffe, der pendelt wieder zurück), aber die Frau ist heute kein passives Objekt mehr, sondern ein aktives Subjekt. Das bedeutet natürlich auch, daß das schwarz-weiß-Rollenbild in sich zusammenstürzt. Es ist für immer mehr Väter selbstverständlich, Betreuung und Erziehung der Kinder aktiv mitzugestalten; im Gegenzug wird aber auch die „Schuldfrage“ bei Scheidungen oder die „Kindswohlentscheidung“ bei Sorgerechtsfragen nicht mehr einseitig zugunsten der Frau beantwortet.

      Teil dieses neuen Denkens ist es, daß es eine Beleidigung gegenüber jeden Mann und darüber auch dessen Partnerin ist, den völlig schwachsinnigen (und unmedizinischen) Ausdruck „Erzeuger“ gegenüber einem (werdenden) Vater zu verwenden (und sachlich auch falsch, denn nach europäischem Recht muß der Erzeuger für ein Erzeugnis, für das er alleine die Verwantwortung trägt, auch eine detaillierte und gut verständliche Bedienungsanleitung mitliefern). Teil ist es, daß der EGMR, das BVerfG (nach Ausscheiden der „alten Generation“ wie DiFabio) und das Justizministerium unter Minister Sabine Leutheusser-Schnarrenberger anerkennt, daß auch Väter mehr sind als „Samenspender“, denen ihr(e zahlreichen) Kind(er) völlig egal sind, sondern eine emotionale Beziehung zu ihren Kindern haben – die nicht selten in „Rosenkriegen“ als Druckmittel mißbraucht wird. Daher werden seit einem Jahrzehnt die Rechte von Vätern an ihren Kindern gestärkt – was aber immer ein letztes Mittel sein muß, wichtiger ist die Sichtweise auf sie.

      Teil ist es auch, daß das Kind selbst nicht mehr als „Auswuchs der Mutter“ gesehen wird; vor fast zehn Jahren waren die ersten Frauen schon in Beugehaft, weil sie ihren „Erzeugnissen“ den Namen des Vaters vorenthielten.

      In Konsequenz des seit dem 19. Jahrhundert laufenden Paradigmenwechsels fällt es immer mehr Menschen auf, daß es ein unhaltbarer Zustand ist, vor allem Mütter dermaßen im Regen stehen zu lassen wie das momentan passiert – Kommunen flennen, sie könnten aus „Finanzgründen“ keine Kinderbetreuung organisieren, kurz nachdem die Bundesregierung einen signifikanten Beitrag zur Förderung der Kinderbetreuung bewilligt, versucht die GEMA, einen Teil davon zu sich umzuleiten. Es geht nicht nurmehr um das „Recht auf Schwangerschaftsabbruch“, sondern das „Recht, ein Kind auszutragen und zu einem selbstbestimmten Leben zu erziehen“ – ohne in eine Niedriglohnsektorfalle zu landen bis zur Altersarmut, Ausschließung von Bildung und Aufstiegsmöglichkeiten und drastische Einschränkungen der Biographie.

      Von daher hat das für Frauen Vor- und Nachteile… aber für Frauen, die es ankotzt, erst als Frau und dann als kompetent im Beruf gesehen zu werden, überwiegen die Vorteile deutlich.

      Die Problematik selbst – und auch das ist sicher ein Generationenproblem – ist deutlich entschärft dadurch, daß heutzutage Verhütungsmittel zur Verfügung stehen und auch nicht „tabuisiert“ werden. Für beide beginnt die Entscheidung also vor der Schwangerschaft mit der Entscheidung über ein Verhütungsmittel, die soweit ausgetestet sind, daß sie mittlerweile sehr sicher sind und für die allermeisten Paare in der 1. und 2. Welt zur Verfügung stehen.

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